SYRINGOMYELIE - eine seltene und neurologische Rückenmarkserkrankung

Unser Spezialist, der Neurochirurgie, Herr Prof. Dr. med. Steffen Rosahl aus dem Helios Klinikum Erfurt hat für das Team der diagnose-ungewiss einen weiteren Beitrag zur Krankheitsbeschreibung der seltenen und neurologischen Erkrankung "Syringomyelie" aus seinem Bestand zur Verfügung gestellt.
Die Syringomyelie ist eine seltene Rückenmarkserkrankung, bei der sich im Rückenmark (bevorzugt Hals- und Brustwirbelbereich) durch Liquorzirkulationsstörungen (Liquor=Gehirn-/Rückenmarksflüssigkeit) mit Flüssigkeit gefüllte Höhlen (Syrinx = gr. für Flöte, Plural: Syringen) bilden. Diese Höhlen verdrängen funktionsfähigen Nervenbahnen und Nervenzellen, so dass es zu neurologischen Funktionsausfällen kommen kann, die oft irreversibel sind. Die Größe der entstandenen Höhle steht in keiner Beziehung mit der Schwe-re der Erkrankung, sondern die Lage der Syrinx bestimmt die Symptomatik.

Viele im MRT gefundene Erweiterungen des Zentralkanals des Rückenmarks werden entsprechend vom Patienten selbst nicht bemerkt. Außerdem können Durchmesser und Längsausdehnung einer Syrinx von einem Tag auf den anderen schwanken. Nicht jede Syrinx im MRT diagnostizierte Syrinx wird im Laufe des Lebens auch symptomatisch. Allerdings kann auch eine noch kaum im MRT sichtbare Syrinx bereits heftige Beschwerden verursachen. Die Entstehung von Beschwerden ist von Lage und zeitlicher Entwicklung der Syrinx, aber auch von anderen Faktoren wie Schmerztoleranz des Körpers und Kombination mit anderen Erkrankungen abhängig.

Die Syringomyelie kann angeboren sein, aber genauso erst später und aus anderen Gründen entstehen. Man weiß heute, dass Störungen der Zirkulation des Nervenwassers (Liquorzirkulation) dabei eine wesent-liche Rolle spielen. Die wichtigsten Ursachen für solche Störungen und damit für eine erworbene Syrinx sind:

1.    Tumore und Gefäßfehlbildungen im Rückenmark
2.    Arnold-Chiari-Malformation
3.    Arachnopathie (durch Arachnoidalzysten, Entzündungen, Narben oder Verletzungen)

In einigen Fällen allerdings bleibt die Ursache sogar ungeklärt.

Die Sicherung der Diagnose einer Syringomyelie erfolgt mit Hilfe der Kernspintomografie. Um zu verstehen, wie das Kernspintomogramm auch zur Aufdeckung der Ursache einer Syringomyelie beitragen kann, muss man die möglichen Entstehungsmechanismen der Syrinx näher betrachten.

Die Entstehung einer – als isoliertes Krankheitsbild sehr seltenen – „idiopathischen“ Syrinx ist im Detail noch immer nicht sicher geklärt. Es mehren sich allerdings die Hinweise in der Literatur, dass auch dafür – ähnlich wie für die Entstehung der traumatischen und postentzündlichen Syringomyelie – ein gestörtes Gleichgewicht zwischen Liquorproduktion, -zirkulation und –reabsorption verantwortlich ist. Zum Beispiel könnte ein erhöhter Druck im Liquorraum  um das Rückenmark auch einen erhöhten Druck in den Venen der Umgebung zur Folge haben (3). Diese Venen sind es aber, welche die Flüssigkeit zwischen den Nerven- und Stützzellen des Rü-ckenmarks (interstitielle Flüssigkeit) wieder aufnehmen müssen. Sind die Druckgradienten für diese Wieder-aufnahme der interstitiellen Flüssigkeit schlecht (zu hoher Druck im venösen System), dann entsteht zunächst eine Schwellung (Ödem) im Rückenmark (2), später zerreißen die Gewebebrücken zwischen den Zellen und es entsteht ein kleiner länglicher Hohlraum (nach dem griechischen Wort für Flöte auch „Syrinx“ genannt), die sich ausweiten kann (1-3;5;10-13). Warum sich manche dieser Höhlen ausweitet, eine andere wieder nicht, ist ungeklärt. Die klinische Symptomatik muss auch nicht mit der Größe, bzw. der Zu- und Abnahme der Größe einer Syrinx korrelieren (4;6;9;10).

Die Entstehung einer im Kernspintomogramm sichtbaren und als „Syrinx“ klassifizierten Veränderung nach einem Trauma kann man sich im Prinzip durch zwei verschiedene Mechanismen erklären. Der erste Mechanismus wäre eine direkte Schädigung des Rückenmarks - durch eine Blutung innerhalb desselben oder durch eine direkte Druckschädigung in Folge einer extremen und raschen Bewegung der Halswirbelsäule. Dadurch entstünde ebenso zunächst erst einmal ein Ödem, später kann eine Syrinx als Restzustand verbleiben. Eine solche massive Schädigung – meist assoziiert mit Zerreißungen der Bänder und Bandscheiben bzw. mit knö-chernen Frakturen der HWS – wird im Allgemeinen auch anfangs schwere Symptome hervorrufen, eben die oben beschriebenen Funktionsverluste. Im vorliegenden Fall ist ein solcher Entstehungsmechanismus schwer vorstellbar. Oft findet sich dann auch im Verlauf eine Dynamik in den kernspintomographischen Untersuchungen, sei es ein abnehmender Rest an Hämosiderinablagerungen oder ein rückläufiges Ödem.

Bei dem zweiten denkbaren Mechanismus kommt es – z.B. durch Blutungen im Bereich um das Rückenmark herum (im subarachnoidalen oder subduralen Raum) zu Verklebungen und Vernarbungen in diesem Raum, in dem normalerweise der Liquor frei zirkulieren kann. Solche „kleineren“, d.h. klinisch ohne schwere neurologische Ausfälle ablaufenden Blutungen können tatsächlich einmal mit Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit einhergehen. Diese Symptome sind aber in aller Regel nach zwei bis drei Wochen wieder verschwunden. Eine posttraumatische Syrinx kann sich daraus dennoch entwickeln – mit bemerkbaren Beschwerden manchmal erst Jahre nach einem Unfall. Trifft ein solcher Mechanismus zu, dann würde man also z.B. folgendes Beschwerdemuster erwarten:
Nach dem Unfall für einige Wochen Nacken-Hinterkopfschmerzen, evtl. Schwindel und Übelkeit. Monate bis viele Jahre später zunehmende, aber charakteristischerweise im vergleich zum Beginn andersartige Beschwerden mit z.B, Schmerzen in den Schultern und Armen, Verspannungen im Rückenbereich, Sensibilitätsstörungen in den Schultern, Armen und Händen, einer Gangunsicherheit und daraus resultierend Schwindel beim Stehen und Gehen nicht oder deutlich weniger beim Sitzen und im Liegen.
Kernspintomographisch kann man Schlussfolgerungen zur exakten Entstehung und zum zeitlichen Verlauf der traumatischen Syrinx eigentlich nur ziehen, wenn man vor, unmittelbar nach und z.B. ein Jahr nach dem Unfall Aufnahmen zur Verfügung hat. Anders gesagt: weder der Syrinx noch den vielleicht verursachenden Verklebungen im Liquorraum sieht man es an, zu welchem Zeitpunkt im Leben des Patienten sie entstanden sind.

Symptome und Verlauf der Erkrankung sowie die klinischen Befunde am Patienten liefern daher wertvollste Hinweise.
Selten kann eine Anhaftung des Rückenmarks durch Bindegewebsstrukturen (z.B. das Filum terminale) zu einer Syrinx führen. Man bezeichnet eine solche Veränderung als Tethered-Cord-Syndrom (sinngemäß: Syndrom des angehefteten Rückenmarks, 7;8).

Um die Zirkulation des Nervenwassers im Schädel bzw. im Rückenmarkskanal darzustellen, ist man bei spezialisierten Kliniken in der Lage, mit einer speziellen MRT-Untersuchung den Fluss aufzuzeichnen. Dabei wird die Pulsation des Nervenwassers in Relation zum Herzschlag des Untersuchten angezeigt. Erfahrene und exakte Analyse der so gewonnenen Darstellung des Nervenwasserflusses lassen selbst kleinste Verklebungen mit Zirkulationsbeeinträchtigung des Nervenwassers erkennen.
Für die Diagnose von Empfindungsstörungen sind weiterhin elektrophysiologische‚ Untersuchungen wie die der SSEP (somatosensorisch evozierte Potenziale) oder MEP (motorisch evozierte Potenziale) von Bedeutung.
 
Eine Entnahme von Nervenwasser aus dem Rückenmarkskanal (Lumbalpunktion) kann wichtige Hinweise auf andere krankhafte Veränderung im zentralen Nervensystem geben, sollte aber nur nach vorheriger Untersuchung des Kopfes mittels Computer- oder Magnetresonanztomografie erfolgen, um vor Entnahme von Nervenwasser klare Befunde über die intrakraniellen Druckverhältnisse zu haben.

Bei Föten stehen pränataldiagnostische Sonografie-Verfahren zur Verfügung, um eine Arnold-Chiari-Malformation zu diagnostizieren.
Symptomatik
 
Die Symptomatik der Syringomyelie ist vielfältig. Meist fällt die Krankheit zuerst durch Schmerzen/Kribbeln/Taubheitsgefühl im Bereich der Schultern und der Arme auf. Bei fortschreitender Erkrankung kommt es durch Schädigung der Leitungsbahnen für die Temperatur- und Schmerzempfindung zu Verletzungen und Verbrennungen, die der Patient selbst nicht fühlt. Auch die anderen Qualitäten der Sensibilität, wie die Berührungsempfindlichkeit oder die Tiefensensibilität (die anzeigt, in welcher Stellung sich der Körper oder die Gelenke befinden), können ein- oder beidseitig an Armen oder/und an den Beinen gestört sein. Störungen der Blasen- und Darmentleerung und sexuelle Funktionsstörungen sind ebenfalls möglich. Auch die Muskelaktivität kann gestört sein. Es kann zu Lähmungen oder spastischen Veränderungen, vornehmlich der oberen, aber auch der unteren Extremität kommen.

Reicht die Syrinx bis in die unteren Hirnanteile, kann es sogar zu Ausfallerscheinungen der Hirnnerven kommen. Weitere mögliche Folgeerkrankungen sind Fehlregulationen der Durchblutung, Schwindel oder Kraftlosigkeit. Die Haut kann bläulich und kühl erscheinen, später auch teigig geschwollen. Die Empfindungsstörungen tragen manchmal dazu bei, dass Wunden bei Syringomyelie-Patienten schlechter heilen und zu Komplikationen führen können.

Nach den ersten Symptomen kann es zu einer über Jahre bis Jahrzehnte dauernden langsamen Verschlechterung des Befindens kommen, wenn man die Ursache der Syrinx nicht ausschalten kann.

grafische Darstellung der Symptomatik mit Syringomyelie
Therapie

Das Ziel der Behandlung einer erworbenen Syrinx sollte es sein, die Ursache zu identifizieren und zu beseitigen.

Bei der angeborenen Syrinx muss sich die Behandlung dagegen heute noch meist auf die Linderung der Symptome (überwiegend Schmerzen) beschränken.

Die Beseitigung der Liquorzirkulationsstörungen, die durch eine Arnold-Chiari-Malformation, durch Tumoren und Gefäßfehlbildungen im Rückenmark oder durch Narben nach Verletzungen oder Entzündungen im Bereich des Spinalkanals der Wirbelsäule aufgetreten sind, ist eine Domäne der Neurochirurgie. Wenn es auch nur selten gelingt, eine partielle oder vollständige Rückbildung der Beschwerden und Symptome zu erreichen, so kann man durch mikrochirurgische Interventionen doch schon heute das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten.

Während früher häufig Drainagen (Shunts) in die Syrinx eingelegt wurden, um die Flüssigkeit heraus zu leiten, hat man diese Methode heute nahezu vollständig verlassen. Bei Vorliegen einer Arnold-Chiari-Malformation erfolgen eine knöcherne Dekompression im Bereich der hinteren Schädelgrube mit gleichzeitiger Schrumpfung der das Hinterhauptsloch blockierenden Anteile des Kleinhirns und die Anlage einer Erweiterungsplastik für die Hirnhaut. So kann die Liquorzirkulation am Kopf-Hals-Übergang wiederhergestellt werden. Oft verkleinert sich die Syrinx nach diesem Eingriff spontan oder fällt vollständig in sich zusammen.

Die mikrochirurgische Entfernung von Tumoren sollte spätestens beim Auftreten erster Symptome erfolgen, weil die entstehenden Defizite oft nicht reversibel sind, auch wenn man den Rückenmarkstumor entfernt.

Verklebungen und Zysten der Spinnenhaut (Arachnoidea) kann man sehr gut mikrochirurgisch beseitigen. Zuvor sollte der kernspintomographische Nachweis erfolgt sein, dass tatsächlich eine Liquorzirkulationsstörung im Bereich der vermuteten Verklebung besteht (dynamische Kernspintomographie mit Liquorpulsations-messung, s.Abb.).

Findet sich keine Ursache für die Syrinx oder verbleiben nach einer Operation beeinträchtigende Symptome, dann sollten diese medikamentös, physiotherapeutisch und verhaltenstherapeutisch behandelt werden.

Patienten mit neuropathischen Schmerzen (Schmerzen durch Rückenmarksverletzungen oder -irritationen) bedürfen einer umfassenden Schmerztherapie durch erfahrene Schmerztherapeuten. Diese Schmerztherapie kann sich langwierig und schwierig darstellen, denn herkömmliche Schmerzmedikamente greifen oft nicht oder nur unzureichend. Empfehlenswert ist eine Kombinationsbehandlung von schmerzhemmenden Medikamenten, Neuroleptika und Antidepressiva, in schweren Fällen kann eine Schmerztherapie durch Opiate erfolgreich sein und dem Patienten oft als "letztes Mittel der Wahl" gute Schmerzlinderung bringen.

Daneben können u.U. Akupunktur, Entspannungstherapien, osteopathische Therapie, kraniosakrale Therapie und verschiedene Arten der Bewegungstherapien die Beschwerden lindern. Auch sollte der Erkrankte Auslöser von Beschwerdeverstärkung wie Stress und/oder körperliche Belastung zu vermeiden und die Signale seines Körpers ernst zu nehmen.

Schließlich sei angemerkt, dass sich Beschwerden durch eine Syringomyelie mit Beschwerden aus anderen Ursachen kombinieren können. Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (z.B. Bandscheibenvorfälle, spinale Engen) sind dafür gute Beispiele. Erfahrene Therapeuten können diese Beschwerden durch klinische Untersuchungen diagnostisch trennen und oft auch helfen, wenn die Syrinx selbst nicht ursächlich (kausal) behandelbar ist.


Literatur

1. Elliott NS, Lockerby DA, and Brodbelt AR: The pathogenesis of syringomyelia: a re-evaluation of the elastic-jump hypothesis.
   J Biomech Eng 131:044503, 2009.

2. Goh S, Bottrell CL, Aiken AH, Dillon WP, and Wu YW: Presyrinx in children with Chiari malformations. Neurology 71:351-356, 2008.

3. Koyanagi I and Houkin K: Pathogenesis of syringomyelia associated with Chiari type 1 malformation: review of evidences and
    proposal of a new hypothesis. Neurosurg Rev 2010.

4. Nakamura M, Ishii K, Watanabe K, Tsuji T, Matsumoto M, Toyama Y, and Chiba K: Clinical significance and prognosis of idiopathic       syringomyelia. J Spinal Disord Tech 22:372-375, 2009.

 5. Park CH, Chung TS, Kim DJ, Suh SH, Chung WS, and Cho YE: Evaluation of intrasyrinx fluid motion by spatial modulation of magnetization-magnetic resonance imaging in syringomyelia with long-term follow-up: a predictor of postoperative prognosis? J Comput Assist Tomogr 32:135-140, 2008.

 6. Robert R, Perrouin-Verbe B, Albert T, Bussel B, and Hamel O: Chronic neuropathic pain in spinal cord injured patients: what is the effectiveness of surgical treatments excluding central neurostimulations? Ann Phys Rehabil Med 52:194-202, 2009.

7. Rosahl SK: Primary Tethered Cord Syndrome, in Ramina R, Aguiar PH, Tatagiba M (eds): Samii's Essentials in Neurosurgery. Berlin - Heidelberg, Springer, 2008, pp 259-265.

8. Rosahl SK, Kassem O, Piepgras U, Hellwig D, and Samii M: High-resolution constructive interference in steady-state imaging in tethered cord syndrome: technical note. Surg Neurol 63:372-374, 2005.

9. Rusbridge C and Jeffery ND: Pathophysiology and treatment of neuropathic pain associated with syringomyelia. Vet J 175:164-172, 2008.

10. Samii M and Klekamp J: Syringomyelia. Springer, 2002.

11. Struck AF and Haughton VM: Idiopathic syringomyelia: phase-contrast MR of cerebrospinal fluid flow dynamics at level of foramen magnum. Radiology 253:184-190, 2009.

12. Ushewokunze SO, Gan YC, Phillips K, Thacker K, and Flint G: Surgical treatment of post-traumatic syringomyelia. Spinal Cord 2010.

13. Zhang ZQ, Chen YQ, Chen YA, Wu X, Wang YB, and Li XG: Chiari I malformation associated with syringomyelia: a retrospective study of 316 surgically treated patients. Spinal Cord 46:358-363, 2008.
Für unsere Mitmach - Aktion der Achse e.V.  zum Tag der Seltenen am 29.Februar 2020 und zur weiteren Zusammenarbeit, siehe oben aufgeführten Beitrag, im Sinne der Selbsthilfe "Betroffene helfen Betroffenen" haben einige Betroffene aus unserer Interessengemeinschaft für Syringomyelie und Chiari Malformation unseren Spezialisten am Heliosklinikum in Erfurt besucht.

Diese schönen Impressionen möchten wir unseren Besuchern nicht vorenthalten.

Wie immer gilt unser Dank unserem Spezialisten Herrn Prof. Dr. med. Rosahl für seine Unterstützung!